Textantrieb

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24.10.2021

Die Erfüllung der Digitalisierung

Mündlichkeit ist die historisch erste Ausformung der menschlichen Sprache. Schriftlichkeit erweitert die Möglichkeiten (Tabellen, Gliederungen), nimmt nicht-sprachliche Inhalte (Diagramme, Bilder) auf, und unterstützt weitere, nicht-natürliche Sprachen (Mathematik, formale Sprachen).

Die Digitalisierung ist nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit das dritte Medium zur Darstellung und Vermittlung von Sprache und anderen Inhalten. So wie die Schriftlichkeit die mündliche Sprache miteinschließt, so begreift die Digitalisierung sowohl Mündlichkeit als auch Schriftlichkeit ein und erweitert noch die Möglichkeiten (automatische Generierung, Interaktivität).

Doch die Digitalisierung wird bislang nur oberflächlich und bruchstückhaft eingesetzt. Während man (im Kontext einer Einzelsprache) in natürlicher Sprache alles ausdrücken kann (Alltag, alle Sach- und Fachgebiete) und mit Schriftlichkeit alles festhalten kann (Bleistift und Papier oder Pergament und Tinte reichen für alle Zwecke), zerfällt die heutige Digitalisierung in abgesonderten, miteinander inkompatiblen Teilsystemen. Wenn die Digitalisierung ihre Möglichkeiten ausschöpfen soll, so muss sie nach dem Vorbild von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ein Medium bereitstellen, mit dem man einheitlich, uniform Sprache und sonstige Inhalte darstellen und vermitteln kann.

Ein Computersystem, das schriftliche Sprache unterstützt, muss etwa das Schreiben und Lesen ermöglichen. Es muss aber nicht wie heute das Bearbeiten nur von Mails oder nur von Notizen, sondern von grundsätzlich allerlei Textsorten mit ein und denselben Mitteln unterstützen. Wenn man eine Sprache kann, kann man sofort ein neu gelerntes Wort einsetzen — die bekannten Syntax und Phonetik reichen. Wenn man Schreiben gelernt hat, kann man auf einem Blatt Papier auf Anhieb einen Brief verfassen und Notizen nehmen. Geht es um eine weitere Textsorte, kann man sie grundsätzlich mit denselben Werkzeugen erfassen. Die Menschheit wäre nicht sehr weit gekommen, wenn jede Erweiterung des Wortschatzes eine grammatische Umwälzung verursachen würde, oder wenn man für jede neue Textsorte auch neue Schreibutensilien benötigte. Die Tatsache, dass man heute beim Schreiben auf einem digitalen Gerät je nach dem, welche Anwendung man nun einsetzt, Überschriften eingeben oder die Rechtschreibung prüfen lassen kann oder aber nicht, ist völlig absurd, und die Tatsache, dass wir das nicht bemerken oder als gegeben hinnehmen, zeigt mit aller Deutlichkeit, dass wir das digitale Medium nicht begriffen haben.

Die Mündlichkeit ist auf laufende Rede ausgelegt und unterstützt über die bloße Signalisierung hinaus vor allem Erzählung und Beschreibung. Mit der Schriftlichkeit nahmen Aufzählungen und Gliederungen, die mündlich nur ansatzweise vorhanden waren, eine neue Dimension an. Die erstellten Texte konnten nicht nur wachsen, sondern gewannen auch an Stabilität. Mehr Menschen konnten sich an den Texten beteiligen, schreibend und lesend, über Raum und Zeit hinweg. Die Digitalisierung ermöglicht es, sowohl die laufende Rede als auch die Textstrukturen maschinell zu unterstützen. Alle bereits in der Schriftlichkeit existierenden Mittel müssen unterstützt werden. Computersysteme müssen auf jeden Fall mit laufender Rede, Aufzählungen und Gliederungen hantieren können. Das ist das absolute Minimum, ist aber heute nicht gegeben. Versuche man mal eine Liste zu erstellen, die E-Mails, Tweets und Notizen sammelt. Kann man nicht. Jedes von den Elementen kann zwar innerhalb der jeweiligen Anwendung, aber nicht innerhalb des Computersystems referenziert werden, womit man sie nicht in ein und derselben Liste aufnehmen kann.

Was die Textstrukturen angeht, bleibt also die gegenwärtige Digitalisierung hinter der Schriftlichkeit zurück. Das zu überwinden, wird schon einen enormen Nutzen bringen. Das sind aber nur die allerersten Schritte. Die Verheißung der Digitalisierung geht weit darüber hinaus und wird sich dann erfüllen, wenn die Computersysteme die Texte nicht nur strukturell, sondern auch semantisch erschließen.

Wir sollen Computersysteme anstreben, die Fragen wie „was habe ich gestern gemacht?” beantworten können, ohne dass ich beim Arbeiten oder beim Erfragen zusätzliche händische Arbeit leisten muss. Systeme, bei denen ich beliebige Elemente als „zu tun” markieren oder mit Notizen versehen und später gezielt abrufen und chronologisch, systematisch oder im Kontext einblenden lassen kann. Systeme, in denen die Möglichkeit vom strukturierten Abfragen nicht voraussetzt, dass man die Daten zusätzlich, im Voraus in eine „Datenbank” eingespeist hat. Systeme, in denen die Möglichkeit, schriftliche Dokumente herzustellen, nicht voraussetzt, dass man die Gliederung und die Absätze zusätzlich, händisch, im Voraus in einem „Textverarbeitungsprogramm” eingegeben hat. Wir sollen Computersysteme anstreben, die nicht nur Zeichenfolgen wiedergeben, sondern semantische Verweise erfassen und damit hantieren können. Dass solche Computersysteme möglich sind, ist die große Verheißung der Digitalisierung.