Wissenschaftsbegriff
Fassen wir den hiesigen Wissenschaftsbegriff kurz zusammen. Das Wesen der Wissenschaft liegt darin, einen Text aufzubauen, der die Realität so beschreibt, wie sie ist. Wissen ergibt sich aus dem resultierenden Text, wenn man sich daran im realitätsaufbauenden Modus hält.
Diese Interpretation des Wesens der Wissenschaft stimmt erst einmal rein formal mit den Wissenschaften, die es seit jeher in allen Zivilisationen gegeben hat. Denn es hat immer einen ausformulierten Text gegeben, sei es eine mündlich überlieferte Geschichte oder eine mehr oder minder fixierte Schriftensammlung, die jeweils als das erreichte Wissen gegolten hat. Diese Interpretation lässt auch das Klischee, die moderne Naturwissenschaft sei deshalb so erfolgreich, weil sie erstens auf Experiment und zweitens auf Mathematik beruhe, unter neuem Licht erscheinen. In Wahrheit ist die moderne Naturwissenschaft deshalb so erfolgreich, weil sie erstens den Text kritisch prüft und zweitens den Text formal fixiert. Kritische Textprüfung bedeutet, den Text in allen möglichen Umständen anzuwenden, ohne ihn zu verändern, um zu sehen, ob er jeweils mit der Realität übereinstimmt. Fixierter Formalismus bedeutet, dass es nicht um sinngemäß zu deutende Prosa, sondern möglichst um formalsprachliche Ausdrücke geht, die man unvoreingenommen einsetzen kann. Wenn man sich die weniger erfolgreiche Einzelwissenschaften anschaut, fällt einem tatsächlich auf, dass sie sowohl wenig kritisch hinterfragt als auch wenig formal ausgedrückt sind, dass es da also weniger um Text und viel mehr um Ideen geht, was der Inbegriff der Unwissenschaftlichkeit ist.
Noch wichtiger erscheint mir aber dieser Begriff der Wissenschaft insofern, als er einen vielversprechenden einzuschlagenden Weg aufzeigt. So lange man auf Experiment und Mathematik fixiert ist, kann man keine Historie, keine Literatur- und keine Rechtswissenschaft als strenge Wissenschaft betreiben. Wenn man sich hingegen um einen ausformulierten geprüften Text bemüht, kann man sich genauso gut fundiert mit Geistes- wie mit Naturwissenschaften beschäftigen. Über alles, worüber man sachlich sprechen kann, lässt sich grundsätzlich auch Wissenschaft machen.