Textantrieb

Manuskript

Text-Phänomenologie

Text in: Sprache

Mit der Symbolsprache ausgestattet möchten wir nun den Text hinter allerlei Phänomenen herausstellen. Fangen wir mit der natürlichen Sprache an.

Grammatik

Die Sätze der natürlichen Sprachen halten sich bekanntlich an einem Satzbau, der sich durch Syntaxanalyse freilegen lässt. Nehmen wir beispielhaft diesen deutschen Satz:

Ein Zug fährt in den Bahnhof ein.

Wir können den Satzbau des obigen Satzes mittels eines Syntaxbaums darstellen:

Satz 
│
├──── Subjekt
│     │
│     ├────── Substantiv "Zug"
│     │
│     └────── Artikel "ein"
│
└──── Prädikat
      │
      ├──── Verb "einfahren"
      │
      └──── Präpositionalobjekt 
            │
            ├──── Präposition "in"
            │
            ├──── Artikel "der"
            │
            └──── Substantiv "Bahnhof"

Der obige Syntaxbaum lässt sich mit den Mitteln der Symbolsprache ausdrücken und präzisieren, etwa so:

Quelle syntaxbaum1, Schema syntaxbaum

~Syntaxbaum {
    ~Satz :Aussagesatz {
        ~Subjekt {
            ~Wortart :Substantiv {
                ~Lexem #Zug;
            }; 
            ~Wortart :unbestimmter Artikel;
            ~Deklination {
                ~Genus #männlich;
                ~Numerus #Einzahl;
                ~Kasus #Nominativ;
            };
        };
        ~Prädikat {
            ~Verb {
                ~Lexem #Einfahren;
                ~Konjugation {
                    ~Person #erste Person;
                    ~Numerus #Einzahl;
                    ~Tempus #Präsens;
                    ~Modus #Indikativ;
                    ~Genus Verbi #aktiv;
                };
            };
            ~Objekt :Präpositionalobjekt {
                ~Präposition {
                    ~Lexem #in;
                };
                ~Wortart :Substantiv {
                    ~Lexem #Bahnhof;
                };
                ~Wortart :bestimmter Artikel;
                ~Deklination {
                    ~Genus #männlich;
                    ~Numerus #Einzahl;
                    ~Kasus #Akkusativ;
                };
            };
        };
    };
};

Das ist ein Ausdruck in der Symbolsprache und daher ein Text.

Die Syntaxanalyse der Sätze hängt mit der Einzelsprache zusammen.

Un train entre en gare.

Würden wir den obigen Satz syntaktisch analysieren, so kämen wir zu einem anderen Text, denn nicht nur die einzelnen Lexeme, sondern auch Elemente wie etwa Genus und Kasus sind in Deutsch und Französisch zum Teil unterschiedlich.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, einen Satz syntaktisch zu analysieren, je nach theoretischer Schule, und mehrere möglichen Darstellungsarten. Jede lässt sich jeweils auf einen symbolsprachlichen Ausdruck zurückführen.

Wir hätten eine etwas andere Syntaxanalyse vornehmen können, beispielsweise mit Elementen wie Nominalphrase und Verbalphrase, und so wären wir für denselben Satz zu unterschiedlichen Texten, die den Satzbau darstellen, gekommen. Das zeigt, dass die Rede von der Syntax von Sätzen eine Abstraktion ist. Es gibt keinen eindeutigen, fixierten Satzbau eines bestimmten Satzes, sondern nur konkretere oder abstraktere Varianten, die sich in unterschiedlichen Texten niederlegen.

Serialisierung

Doch die Syntax der Sätze ist nicht etwas, das unmittelbar verkörpert wird, wenn wir Sprache einsetzen. Wenn wir sprechen und schreiben produzieren wir zunächst Laute und Schriftbilder. Schauen wir uns dies an, beginnend mit der mündlichen Sprache. Hier eine phonetische Transkription unseres Beispielsatzes:

aɪn t͡suk fɛɐt ɪn den ban hof aɪn

Dies lässt sich in Textform darstellen:

Quelle phonetik1, Schema phonetik

~Phonetische Transkription {
    ~Satz {
        ~Silbe {
          ~Laut :Ungerundeter offener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Ungerundeter zentralisierter fast geschlossener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Stimmhafter alveolarer Nasal;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Stimmlose alveolare Affrikate;
          ~Laut :Gerundeter geschlossener Hinterzungenvokal;
          ~Laut :Stimmloser velarer Plosiv;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Stimmloser labiodentaler Frikativ;
          ~Laut :Ungerundeter halboffener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Fast offener Zentralvokal;
          ~Laut :Stimmloser alveolarer Plosiv;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Ungerundeter zentralisierter fast geschlossener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Stimmhafter alveolarer Nasal;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Stimmhafter alveolarer Plosiv;
          ~Laut :Ungerundeter halbgeschlossener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Stimmhafter alveolarer Nasal;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Stimmhafter bilabialer Plosiv;
          ~Laut :Ungerundeter offener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Stimmhafter alveolarer Nasal;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Stimmloser glottaler Frikativ;
          ~Laut :Gerundeter halbgeschlossener Hinterzungenvokal;
          ~Laut :Stimmloser labiodentaler Frikativ;
        };
        ~Silbe {
          ~Laut :Ungerundeter offener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Ungerundeter zentralisierter fast geschlossener Vorderzungenvokal;
          ~Laut :Stimmhafter alveolarer Nasal;
        };
    };
};

Die Symbole der letzten Ebene stehen hier für Laute, d.h. physische klängliche Einheiten. In der Schriftsprache stehen die Symbole hingegen für physische visuelle Einheiten. Die schriftliche Darstellung eines Satzes besteht aus Worten und Interpunktionszeichen, die reihenweise angeordnet werden. In der Symbolsprache:

Quelle schrift1, Schema schrift

~ Schriftlicher Ausdruck {    
    ~ Satz {
        ~ Wort =Ein;
        ~ Wort =Zug;
        ~ Wort =fährt;
        ~ Wort =in;
        ~ Wort =den;
        ~ Wort =Bahnhof;
        ~ Wort =ein;
        ~ Interpunktionszeichen #Punkt;
    };
};

Wobei jedes Wort aus Buchstaben besteht.

Quelle schrift2, Schema schrift

~ Schriftlicher Ausdruck {    
    ~ Satz {
        ~ Wort =Ein {
            ~ Buchstabe #E;
            ~ Buchstabe #i;
            ~ Buchstabe #n;
        };
    };
};

Dieser Ausdruck gibt zum einen durch die Zuordnung von Buchstaben zu Lauten einen phonetischen Inhalt wieder. Zum anderen sind hier grammatische Informationen enthalten. Substantive und Worte am Satzanfang werden großgeschrieben und Sätze mit einem Punkt abgeschlossen. Der Zwischenraum zwischen den Worten markiert syntaktische Elemente.

Mündlicher und schriftlicher Ausdruck sind zwar materiell grundverschieden, symbolisch aber änlich. Sowohl die phonetische als auch die schriftliche Transkription eines Satzes bestehen in einer Aneinanderreihung von Symbolen, die jeweils für einen sprachlichen Grundbaustein (Laut, Buchstabe) stehen. Beide Darstellungsarten sind also eine Serialisierung eines grammatischen Inhalts, der auch symbolischer Natur, aber nicht lineal ist.

Syntax und Lexik sind nicht durch die Sinnesorgane wahrnehmbar, sondern nur durch den Verstand erkennbar. Bei Alphabet- und Silbenschriften ist es so, dass der schriftliche Ausdruck auf den mündlichen verweist, und aus diesem sich die grammatische Ebene ergibt.

Sprache muss dargestellt werden, um übertragen oder festgehalten zu werden. Jegliche Darstellungsart (Laut-, Schrift-, Gebärdensprache usw.) ist eine Serialisierung eines symbolischen Gehalts auf materieller Basis.

Semantik

Neben einer Grammatik weisen die sprachlichen Erzeugnisse eine Semantik auf. Hier muss man zwei völlig unterschiedliche Untersuchungsobjekte auseinanderhalten. Zum einen kann man sich mit den semantischen Bestimmungen, die sich im Allgemeinen aus den Sätzen ergeben, beschäftigen. Nennen wir das die formale Bedeutung der Sätze. Zum anderen kann man sich damit auseinandersetzen, wie reale Menschen bestimmte sprachliche Äußerungen bei bestimmten Anlässen nun gemeint oder gedeutet haben. Das nennen wir im Folgenden den Sinn der Sprache.

Formale Bedeutung

Man könnte die formale Bedeutung unseres Beispielsatzes in Worten folgendermaßen wiedergeben. Der Satz beschreibt den Vorfall einer Handlung, der darin besteht, dass ein nicht näher bestimmter Zug sich so bewegt, dass er in einen bestimmten Bahnhof hineinkommt. Dasselbe mit der Symbolsprache wiedergegeben:

Quelle tatsache1, vorfall1, Schema behauptung handlungsvorfall

~Tatsache :Handlungsvorfall {
    ~Agent :Zug;
    ~Handlung :Einfahren {
        ~Wohin :Bahnhof #der Bahnhof;
    };
};

Die formale Bedeutung des Satzes besteht darin, die drei Symbole für den Zug, das Einfahren und den Bahnof als Bestandteile eines Handlungsvorfalls zusammenzufassen. Die Symbole für Agent (:Zug) und Handlung (:Einfahren) werden hier nur lexikalisch eingesetzt und deren Verweise nicht näher bestimmt. Das Bewegungsziel (:Bahnof) bezieht sich auf einen bestimmten Bahnof, der im Satz zwar nicht spezifiziert wird, der aber einen externen Verweis (#der Bahnhof) aufweist, der im Kontext aufgelöst werden soll.

Sinn der Sprache

Die Sätze der Sprache rufen in uns Menschen manchmal Vorstellungen auf und anders herum entstehen manchmal Sätze aus Vorstellungen.

Beispiel 1. Ich befinde mich vor dem Bahnhof meines Wohnortes, eines ländlichen Ortes, der mir vertraut ist. Es ist ruhig und man hört die Vögel zwitschern. Plötzlich ertönt ein unangenehmes trompetenartiges Hupen, man vernimmt ein schnell lauter werdendes Rollen, gleich ist eine Lokomotive mit angehängten Wagen zu sehen, die quietschen, während sie bis zum Stillstand bremsen. Ich telefoniere gerade und sage „Ein Zug fährt in den Bahnhof ein”. Meine Gesprächstpartnerin hört meinen Satz. Was sie sich gerade darunter vorstellt, weiß ich nicht. Sie sieht schließlich nicht dasselbe wie ich, war auch selbst nie im Ort, und kann sich deshalb unmöglich dasselbe wie ich vorstellen.

Welchen Sinn hat dieser Satz gerade jetzt für mich? Welchen Sinn hat er für meine Gesprächspartnerin? Wenn wir nach den Vorstellungen als Bewusstseinsinhalt fragen, stoßen wir auf zwei unüberwindbare Schwierigkeiten. Zum einen, dass die Menschen nun mal keinen Zugang zu fremden Gedanken haben, sondern nur jeweils zu den eigenen. Zum anderen, dass innere Vorstellungen als Erlebnis sich nicht treu und vollständig beschreiben lassen. Wenn wir im Rahmen einer theoretischen Forschung wie die hiesige die Erfassung eines Sinns angehen, so müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass wir nur die äußersten Schichten des Sinngehalts erreichen können. Damit kann man zwar den Sinn nicht ausschöpfend bestimmen, aber durchaus bestimmte Fehlinterpretationen ausschließen.

Gehen wir nun die Frage nach dem Sinn, indem wir versuchen, nur eine erste, minimale semantische Bestimmung ausfindig zu machen. Wir könnten sagen, beim Satz handelt es sich um eine Behauptung, also um die Feststellung, dass etwas der Fall ist. Damit meinen wir, sowohl meine Gesprächspartnerin wie ich haben die Aussage als Behauptung gedeutet bzw. gemeint. Dieses könnte man etwa so fassen:

Quelle behauptung1, vorfall1, Schema behauptung handlungsvorfall

~Behauptung {
    ~Tatsache :Handlungsvorfall {
        ~Agent :Zug;
        ~Handlung :Einfahren {
            ~Wohin :Bahnhof #der Bahnhof;
        };
    };
};

Dies enthält die o.g. formale Bedeutung des Satzes und fügt hinzu, dass die gennante Tatsache nun der Fall ist.

Beispiel 2. Im Hauptbahnof der Großstadt arbeitet gerade ein Team daran, den Einsatz der Sicherheitskräfte zu planen. Aufgrund neulicher Vorfälle, auf die man zu langsam reagiert hat, möchte man nun die Vorgänge verbessern. Man erörtet gerade, was für Handlungen man bei jedem Eintreffen eines Zuges im Bahnhof durchführen soll. Im Gespräch fällt der Satz „Ein Zug fährt in den Bahnof ein”. Die Sprechenden deuten den Satz als eine allgemeine Bedingung. Jedes Mal, wenn ein Zug hier einfährt, müssen sie etwas bestimmtes tun. Was in ihren Köpfen vorgeht, wird durch Vorkenntnisse über örtlichen, bahnhofsmäßigen und schicherheitstechnischen Gegebenheiten bestimmt.

Wir möchten nun diesen Sinn des Satzes analysieren. Es fällt auf, dass hier der Satz nicht selbstständig, sondern als Bedingung zusammen mit seiner Folge erfasst werden muss. Wir drücken das so aus:

Quelle regel1, vorfall1, Schema behauptung handlungsvorfall regel

~Vorgehensregel {
    ~Bedingung :Handlungsvorfall {
        ~Agent :Zug;
        ~Handlung :Einfahren {
            ~Wohin :Bahnhof #der Bahnhof;
        };
    };
    ~Vorgehen =Sicherheitsteam positioniert sich am Gleisende;
};

Im zweiten Beispiel spielt der Satz nicht die Rolle einer Behauptung, sondern die der Bedingung in einer Regel.

Auch wenn wir hier den Sinn der Sätze nur minimal analysiert haben, hat sich schon herausgestellt, dass ein und derselbe Satz je nach dem einen unterschiedlichen Sinn haben kann.

Der springende Punkt hier ist, den Satz als Behauptung aufzufassen gehört nicht zur formalen Bedeutung. Er kann auch als Bedingung eingesetzt werden, oder etwas anderes. Ich war einmal in einem vollen Bus unterwegs und neben mir saß jemand, der am Handy sagte: „Ich bin gerade im Flughafen”. Sorry, er war nicht im Flughafen, sondern im Bus mitten in der Stadt. Mag sein, dass die Person an der anderen Seite den Satz als Behauptung aufgefasst hat. Für meinen Sitznachbar war es ein Vorwand, Ausrede, Täuschung, oder was auch immer, aber garantiert keine Tastsachenfeststellung.

Während die formale Bedeutung sich aus jedem Satz allein für sich genommen ergibt, ist der Sinn der Sprache nur in größeren Einheiten zu bestimmen. Während ein Satz genau eine formale Bedeutung hat, kann er in diesem und jenem Einsatz jeweils zu einem anderen Sinn beitragen. Während die formale Bedeutung allgemeingültig und abstrakt ist, ist der Sinn Sachbezogen. Um die formale Bedeutung eines Satzes zu erfassen, braucht man Sprachkompetenz. Um den Sinn von Sprache zu erfassen, braucht man zusätzlich zur Sprach- auch Sachkompetenz.

Der Text in der Sprache

Wir haben uns im Vorigen in der natürlichen Sprache umgesehen. Satzbau, Phonetik, Schrift und Semantik haben wir auf symbolische Ausdrücke zurückgeführt. Da wir hier den Text als ein symbolisches Gebilde definieren, können wir feststellen, dass in den sprachlichen Äußerungen ein Text vorhanden ist. Es gibt aber nicht den einen Text, sondern viele, die auf einander beziehen: einen Text im Satzbau, einen in der phonetischen Analyse, weitere in formaler Bedeutung und je nach Anlass im Sinn, und mehr. Und jeder von diesen ist auch nicht eindeutig, denn Syntax, Phonetik und Semantik lassen sich jeweils unter Einsatz verschiedener theoretischen Rahmen auch unterschiedlich als Text erfassen.

Mit diesem theoretischen Befund ausgerüstet sehen wir uns nun die herkömmliche Nutzung des Wortes Text an. Man sagt: „ich habe einen Text geschrieben” und meint, man habe ein Schriftstück verfasst. Man wird kaum damit eine Folge von Absätzen, die jeweils eine Folge von Alphabet- und Interpunktionszeichen sind, meinen. Eher wird man eine Folge von Sätzen meinen, die jeweils aus einer Folge von Worten bestehen. Manchmal geht es aber nicht so sehr um den Wortlaut, sondern um dessen Sinn. Hinter all dem lässt sich jeweils einen Text (einen artikulierten symbolischen Gehalt) erkennen, doch es gibt mehrere davon, die nicht bloß verschieden, sondern völlig andersartig sind. Was ist Shakespeares Hamlet? Nicht nur: welche Fassung ist gemeint?, sondern auch: geht es um den genauen Wortlaut?, ist die Orthographie mitgemeint?, sind Übersetzungen in anderen Sprachen mitgemeint, gar Verfilmungen? All diese Bedeutungen kommen mal vor, manchmal meint man Hamlet im engeren, manchmal im weiteren Sinn. Es ist immer ein Text gemeint, jedoch handelt es sich um ganz unterschiedliche Texte.

Wir stellen fest, die natürliche Sprache ist textbasiert. Denn wir können in Satzbau, Phonetik, Orthographie und Semantik einen Text erkennen, der das für uns jeweils Wesentliche im Ausdruck erfasst. Es handelt sich hier jedoch dabei um keinen formalen Einsatz vom Text, denn der exakte Text in den sprachlichen Erzeugnissen steht nicht fest. Das heißt, natürliche Sprache basiert auf Text, die Sprachproduktionen lassen sich aber nicht eindeutig auf einen jeweils fixierten Text zurückführen.