Textantrieb

Manuskript

Wissenschaft

Natur- und Geisteswissenschaften

Es ist ein großer Irrtum, die Natur- und die Geisteswissenschaften für zwei grundsätzlich verschiedene Angelegenheiten zu halten. Man glaubt zu erkennen, dass die Natur oder die Materie etwas Grundverschiedenes vom Geist oder der Geschichte ist, und glaubt deshalb zum Schluss kommen zu können, dass die erste eine strenge, systematische Wissenschaft zulässt, während die zweite nur intuitiv und kreativ zu betreiben ist.

Sicher kann man sich mit den Erkenntnissen auf zweierlei Weise beschäftigen: formal-theoretisch und sinnhaft-ideenmäßig. Doch es ist verkehrt, das Formale den Natur- und das Sinnmäßige den Geisteswissenschaften zuzuschreiben. Es ist vielmehr so, dass das Formale der Wissenschaft überhaupt und das Sinnmäßige der Kultur überhaupt zuzuweisen ist.

Ernste Wissenschaft lässt sich nur formal-theoretisch betreiben. Denn nur die Form teilen alle Menschen, nur die strukturelle Arbeit führt zu einem Kultur- und Jahrhundertübergreifenden Wissen. Das betrifft Natur- wie Geisteswissenschaft. Auf der anderen Seite muss nicht alles, was der Mensch macht, wissenschaftlich sein, und Ideen werden auch gebraucht. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen interpretiert werden, das ist kulturell von der allergrößten Bedeutung. Das betrifft aber auch Geistes- wie Naturwissenschaft. Wir sind heute im Irrtum befangen, zu meinen, dass die Naturwissenschaft keiner Interpretation bedarf. Was wir damit erreichen, ist jedoch nichts anderes, als mit einer billigen Interpretation derer auskommen zu müssen.

Sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaften sind formal-theoretisch — oder sie haben die wissenschaftliche Reife noch nicht erreicht. Kulturell müssen sowohl die Ergebnisse der Natur- als auch die der Geisteswissenschaften, und zwar auch zusammen als Ganzes, interpretiert werden. Wo das Formal-Theoretische, in Natur- wie in Geisteswissenschaften, fehlt, ist die Wissenschaft schwach. Wo das Deutende, in Natur- wie in Geisteswissenschaften, fehlt, ist die Kultur arm.