Urbanisierung des Intellekts
Urbanisierung ist eine Errungenschaft und eine Voraussetzung der Zivilisation. Der Mensch kann ohne gepflasterte Straßen, ohne Kanalisation und ohne Stromnetz auch leben, hat er lange Zeit durch gemacht. Nur können so kleinere Gruppen von Menschen zusammenleben. Städte brauchen unbedingt Straßen und Kanalisation, ohne diese können sie nicht wachsen und führen zu unerträglichem Chaos. Die intellektuelle Arbeit befindet sich gegenwärtig noch immer in dem spontanen, rohen Zustand. Jeder denkt für sich so gut er kann, es gibt Gewohnheit und Tradition aber keine ingenieurmäßig gebaute Infrastruktur dafür. Der Einzelne bewegt sich im Laufe seines ganzen Lebens in einem sehr begrenzten intellektuellen Bereich, die Nachbarorte sind einem nur vom Hörensagen bekannt, von den entfernteren Weltgegenden hat man nur ausgefallene Vorstellungen. Wenn man es unbedingt will, kann man zwar auch reisen, denn zwei Beine hat man schon, nur muss man lange Zeit laufen, und wenn man weit genug gegangen ist, muss man noch mehr Zeit investieren, um eine von der eigenen völlig getrennt entwickelten Sprache zu erlernen und sich in komplett andersartigen Umgangsformen zurecht zu finden. Heute kann man sich sicherlich auch mit der Physik vertraut machen, man muss nur viel Zeit und Energie dafür investieren und in eine sehr ausgeprägte Gedankenwelt eintauchen. Einige Jahre später kann man sich gewiss auch mit Soziologie befassen, man muss dann wieder Tausende von Seiten lesen und sich in ein kollektives Gespräch vertiefen. So kann man sich wie Bouvard et Pécuchet in der Welt umsehen. Man wird aber im Laufe eines Menschenlebens nicht sehr weit kommen, und vor allem wird man mit einer Sammlung von verschiedenen Ansätzen enden, die man überhaupt nicht integrieren kann, weil sie sich jeweils völlig abgeschottet entwickelt haben und in den Grundlagen miteinander inkompatibel sind.
Es ist dringend notwendig, die intellektuelle Arbeit der Menschheit zu organisieren und deren Produktion zu urbanisieren. Wir sind deshalb mit den gegenwärtigen Problemen überfordert, weil unsere intellektuellen Mittel nicht mit den Herausforderungen mit gewachsen sind. Unsere Fähigkeit zur Diskussion und Gruppenbildung kann eine relativ gesunde Demokratie in einem mittelgroßen Staat zustande bringen, scheitert aber kläglich auf weltweiter Ebene, wo noch immer Organisations- und Kommunikationsschwierigkeiten den Umgang miteinander bestimmen und Individualinteressen und das bloße Gesetz des Stärkeren regieren. So bleibt die Reaktion auf weltweite Herausforderungen wie die Gefährdung der Biosphäre durch unmäßige Beanspruchung von Ressourcen lange hinter dem zurück, was vernünftig und nötig wäre. Auch die Wissenschaft ist außer Kontrolle geraten. Der Vorrang der Prosa, die in begrenzten Bereichen in mathematische Sprache übergeht, die Diskussion und Verbreitung von Ideen und Theorien mit Artikeln in Zeitschriften, die Herausgabe von Handbüchern in privaten Verlagen, haben vielleicht dem Stand der Wissenschaft im frühen neunzehnten Jahrhundert entsprochen, einer Zeit mit einer recht überschaubaren Anzahl an wissenschaftlichen Agenten und Erkenntnissen. Diese Infrastruktur ist aber für die Gegenwart überhaupt nicht angemessen, da die Anzahl der beteiligten Universitäten, Verlage, Wissenschaftler und Publikationen ins Unermessliche gestiegen ist.
Wir brauchen Mittel, um die globalen Probleme besser durchschauen und lösen zu können. Wir müssen die Kraft des Denkens und Handelns erhöhen, um die riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu bewältigen. Wir müssen die intellektuelle Arbeit urbanisieren.