Textantrieb

Manuskript

Wissenschaft

Einheit der Wissenschaft

Der alte Menschheitstraum der Einheit aller Wissenschaften konnte sich bisher nicht verwirklichen. Die Suche nach der Einheit ist in der Ausführung mangelhaft gewesen. Häufig hat man geglaubt, die Einheit der Wissenschaften könne hergestellt werden, indem man neben den bereits existierenden Disziplinen neue Brückendisziplinen entwickelt. Das ist aussichtslos. Unter den Wissenschaften wird man nur dann eine richtige Einheit herstellen können, wenn man sie alle von Grund auf erneuert. So wohnen die heutige Physik und die heutige Geschichte in parallelen Universen, und wir werden sie nur dann in einem konsistenten Ganzen integrieren können, wenn wir beide gründlich erneuern. Voraussetzung für die Einheit der Wissenschaften ist der Umbau jeder Einzelwissenschaft auf der Basis gemeinsamer Grundlagen. Wenn die Einheit der Wissenschaften einmal erreicht wird, so wird das ganze Wissen anders aussehen als heute, die Physik und die Geschichte werden ganz anders als die gegenwärtigen sein und sie werden miteinander und mit dem Ganzen harmonieren.

Einige bisherigen Ansätze sind auch insofern zu kurz, als sie die Einzeldisziplinen als getrennte Wissenseinheiten auffassen, und sich bemühen, Verknüpfungen zwischen ihnen herzustellen. Ich hingegen plädiere dafür, die Ergebnisse aller Disziplinen in das einheitliche wissenschaftliche Korpus zu integrieren. Nur so hat die praktische Notwendigkeit, die wissenschaftliche Arbeit durch verschiedene unabhängige Organisationen zu betreiben, nicht zur Folge, dass das Ergebnis auch in getrennte Wissensbereiche zerfällt. Indem wir grundsätzlich die Wissenschaftler vom Wissen trennen, vermeiden wir von Grund auf jegliche Parzellierung des Wissens.

Auch nicht einverstanden bin ich mit der häufig zu begegnenden Auffassung, die Einheit der Wissenschaften sei ein bloßer Wunsch, den man heute nicht selbst als wissenschaftlich einstufen oder rational begründen, sondern nur daran glauben — oder nicht — könne. Das ist ein Irrtum. Aus der Einsicht, dass Wissenschaftsarbeit Textarbeit ist, ergibt sich, dass die Wissenschaft definitionsgemäß die Einheit des Wissens anstrebt. Aus dem Begriff der Wissenschaft als gesichertes Wissen folgt rein logisch der Begriff des einheitlichen, stofflichen, formalen wissenschaftlichen Korpus und daraus zwangsläufig die Einsicht, die wissenschaftliche Arbeit müsse nach Einheit anstreben.

Der Weg dahin

Die Einheit aller Wissenschaften lässt sich durch ein stoffliches, formales, einheitliches wissenschaftliches Korpus verwirklichen. Wohlgemerkt ist hier weder von der gesellschaftlichen Organisation der Wissenschaft noch von wissenschaftlichen Ideen die Rede. Dass die Wissenschaftler sich in Disziplinen gruppieren, womit sie neben Erkenntnissen auch Mentalität, Visionen — und Irrtümer — miteinander teilen, ist nützlich und soll so bleiben. Es soll auch keine Grunddisziplin geben, auf der alle anderen basieren. Nur sollen diese Einzeldisziplinen als praktische Mittel angesehen werden, durch die sich der wissenschaftliche Betrieb organisiert, und von den von ihnen erzielten Erkenntnissen sauber getrennt werden. Diese Ergebnisse sollen in das wissenschaftliche Korpus einfließen, und zwar alle Ergebnisse von allen Disziplinen in ein und dasselbe Korpus. Dadurch wird erstmal die bloß formale Einheit der Wissenschaften erreicht. Die inhaltliche Einheit kann nach und nach vertieft werden, indem eine wissenschaftliche Arbeit über das Korpus verrichtet wird, die anfangs getrennt liegende Korpusbereiche miteinander verknüpft. Es handelt sich um die organonische Arbeit der begrifflichen und textstrukturellen Rationalisierung, einen fortwährenden Prozess ohne ein endgültiges Ende.